....................................................„Papa bekomme ich eine Schwester?“ Friedrich zog die Augenbrauen in die Höhe: „Wenn das wieder ein Mädchen wird, kann der Storch was erleben. Dann binde ich ihm meinen Amboss um den Hals und schmeiße ihn in die Elbe.“ Seine Tochter guckte ihn entgeistert an. „Der arme Storch, damit kann er bestimmt nicht schwimmen?“ Friedrich streichelte über ihren Kopf, lehnte sich seufzend zurück, und trank einen weiteren Schnaps. Aus dem Schlafzimmer war das Stöhnen und leises Fluchen seiner Frau zu hören, die sich bemühte ihr zweites Kind zur Welt zu bringen......................
…................................................In der fünften Klasse beobachtete Willi, wie der schmächtigste Junge in seiner Klasse dauernd Hänseleien und Handgreiflichkeiten ausgesetzt war. Einige älteren Jungs aus der Karlstraße hatten es auf ihn abgesehen. Das widersprach Willis Gerechtigkeitsempfinden. Seine Mutter hatte mit erhobenen Zeigefinger versucht ihm beizubringen, dass die Bibel nicht nur ein Märchenbuch ist. „Auch wenn dein Vater dir was anderes erzählt hat, die Bibel enthält durchaus auch nachahmenswerte Grundhaltungen. Du hast doch sicherlich gelesen: „Lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, Witwen und Waisen!“ --- Merk dir das, mein Lieber! Wer anderen nicht hilft, der kann auch nicht darauf hoffen, dass ihm mal geholfen wird. Jeder kommt mal in die Lage, wo er fremde Hilfe braucht, du wirst es erleben!“
Um seiner Mutter zu zeigen, dass er auf sie hörte, beschloss Willi bei nächster Gelegenheit zur Tat schreiten. Es galt schließlich einem Unterdrückten zu helfen! Der motivierte Junge überraschte den nichts ahnenden größten Rabauken in einer Pause auf dem Schulhof. .........................
….....................Nach acht Wochen Grundausbildung wurden die beiden Blutsbrüder mit 3200 anderen Schleswig-Holsteinern nach Bohain in Nordfrankreich verlegt. Das war zu ihrer großen Überraschung eine sehr friedliche Gegend. Von Krieg war hier nichts zu sehen. Die Landschaft war durchzogen von kleinen Flüssen und einigen 400 Meter hohen Hügeln. Die wurden von den Dithmarschern als „stattliche Berge“ bezeichnet. Zur allgemeinen Freude gab es hier überall Wein- und Champagnergüter, die gerne von den deutschen Truppen besetzt wurden. Fachmännisch wurden Weinsorten nach Jahrgängen durchprobiert. Willi und Paul hatten das trügerischere Gefühl, dass es schlimmere Dinge gibt, als ein fremdes Land zu besetzen. Auf alle Fälle war es hier viel besser, als unter dem Stacheldraht des matschigen Exilzierplatzes in Heide. Und mehr zu trinken gab es auch..............
..............................Der Mensch wurde zum urzeitlichen Tier und jeder Gedanke wurde vom Selbsterhaltungstrieb überlagert. Der Körper produzierte alle erforderlichen Drogen, zu der er in der Lage war. Alle Sinne waren aufs Töten und aufs Überleben programmiert. Er oder ich, eine Alternative gab es nicht. Das Gehirn hatte jeden Schmerz ausgeschaltet, und der Instinkt hatte jedes Mitleid verdrängt. Bei jedem Schritt musste man über Leichen oder Teile davon steigen. Hier war kein Platz mehr für Ehre oder Vaterlandsliebe, und für einen Kaiser schon gar nicht. Tausende starben in einer Stunde. Manche Regimenter der Alliierten verloren innerhalb einigen Minuten die Hälfte ihrer Soldaten............................
…............................................Feuchtfröhlich verbrachten sie die nächsten Stunden, und sprachen verklärt über alte Zeiten. Dabei machten sie die Erfahrung, die wohl jeder schon mal gemacht hat, dass sich manche Dinge nach einiger Zeit besser anhören, als sie in Wirklichkeit waren. „So ein Holzbein kann ja auch Vorteile haben........“ Paul war bestens gelaunt und erzählte ausgelassen Witze über Männer mit einem Bein. „Prost, darauf trinken wir noch einen, auf einem Bein kann man ja nicht stehen!" Es wurde viel gelacht, und die Zeit verging sehr hochprozentig. Nach ein paar Stunden fragte der gutgelaunte Hauptwachtmeister nach Willis Zukunftsplänen. Als der mit den mit den Achseln zuckte, erzählte Paul von einen Freund, der in der Verwaltung der Schleusen arbeitete. „Auf der Schleuse suchen sie dringend Leute. Willst du nicht auf der Schleuse arbeiten? Ich glaube ich könnte da was machen. Darauf trinken wir noch einen!“ ….......................
….................................Ihr Vater war in Frankreich gefallen und ihre Mutter Gretel brachte die beiden mühsam alleine durch, indem sie die Wäsche von Kapitänen, Lotsen und Geschäftsleuten in Brunsbüttel wusch. Von ihrer Witwenrente von fünfundfünfzig Mark im Monat, konnte man weiß Gott nicht leben. Deshalb war Gretel auch sehr schlank, und wie Willi fand ein bisschen zu mager. Trotzdem war sie eine wirkliche Schönheit. Auch deshalb konnte Willi nicht verhindern, dass er sie immer ausgiebiger musterte, wenn er sie vor dem Haus traf. Ihr Blick wich seinem schüchtern aus, aber sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Unangenehm war ihr das nicht. Als Willi das bemerkte, veränderte sich auch seine Gesichtsfarbe. Das war ihm noch nie passiert, jedenfalls nicht bei einer Frau. ….................................................
…............................. Sein schmutziges Arbeitszeug wurde darüber gelegt, und der Alkohol wurde umgehend zu den Abnehmern befördert. Die Zollbeamten wussten sehr gut, dass Willi öfter Schokolade, Kaffee oder Bananen in seinem Seesack versteckte. Aber da wurde ein Auge zugedrückt, weil der beliebte Schleuser dafür sorgte, dass die Zollbeamten immer mit feinsten Kaffee versorgt waren. „Damit ihr bloß nicht einschlaft bei euren langen Nachtschichten. Es geht doch nichts über einen schönen Kaffee, nicht wahr Jungs.“ Willis Verhältnis zu den Zöllnern war sehr gut. Der Begriff „Bestechung“ war völlig unbekannt. Es wurde höchstens mal von „eine Hand wäscht die andere“ gesprochen. So lief es auch mit dem Schnaps, ein schlechtes Gewissen hatte niemand. Willi sah solche Geschäfte als eine Art Notwehr an, er half schließlich Witwen und Halbwaisen. Auf alle Fälle war nun ein regelmäßiger Kreislauf geboren. Es gab nur Gewinner, fand Willi! …...........................................................
…......................Drei Tage später ließ es sich Hitler nicht nehmen, vor 250.000 jubelten Menschen auf dem Heldenplatz in Wien „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“ zu verkündigen. Die 250.000 Österreicher, die ihm zujubelten, fühlten sich von ihren schrecklichen Leiden jetzt sichtlich befreit. Komischerweise waren sich nach dem Krieg alle Alpenbewohner einig, dass sie die unschuldigen Opfer der bösen Deutschen waren. Doch damit war Hitlers Drang andere Deutsche zu befreien noch nicht gestillt. Jetzt waren die Deutschen in den Grenzgebieten zur Tschechoslowakei dran, heim ins Reich zu kommen.......................
....................................Und die Leute gucken zu, als wenn sie das überhaupt nichts angeht. Ich habe es mit eignen Augen gesehen. Manche Häftlinge werden so verprügelt, dass sie den Zug schon halb tot besteigen mussten. Mir wurde schon vom Zusehen ganz übel, und ich konnte nicht mehr schlafen. Ich habe nächtelang gegrübelt, und da ist mir dann eine Idee gekommen. Mit deinen Talenten könnten wir da helfen.“ „Mach ich, was soll ich für dich rausschmuggeln?“ „Ne ne Willi, nichts rauschmuggeln, mehr was reinschmuggeln. ------- Du kennst doch den schwedischen Kapitän ganz gut, der das Papier besorgt hat. Kannst du den nicht mal fragen, ob er ein paar Passagiere mit nach Schweden nehmen könnte? Die könnten dafür auch gut bezahlten.“ …................................
…............................Peter sollte den Transport von Hamburg nach Brunsbüttel übernehmen. „Kein Problem! Ich kenne einen Fischer, der immer nach Hamburg fährt, um seinen Fisch dort zu verkaufen. Der nimmt uns mit.“ Willi sorgt dafür, dass er Nachtschicht hat, und kümmerte sich um den freien Zugang zum Schleusenbereich. Dafür einen Dietrich anzufertigen sollte kein Problem sein. Das hatte er schon in jungen Jahren von seinem Vater gelernt. Für die Betreuung der Passagiere wurde Bootsmann angeheuert, denn der hatte schon zuverlässige Dienste beim Schnaps schmuggeln geleistet. Er bekam die Aufgabe die Passagiere von Peters Schrebergarten abzuholen. Der lag sehr günstig zwischen Elbe und Kanal. Hier sollte er sie mit Kleidung vom Trödler, in Seemänner verwandeln. Dabei sollte er ihnen auch beibringen, wie man sich als Seemann unauffällig benimmt. Dann sollten sie zur Durchgangstür gebracht werden, wo Willi sie abgeholte. „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anders setzen.“ Das war das Motto für dieses Vorhaben. …................................
….........................Es war fast windstill, aber es dauerte nicht lange, da verwandelte sich das Schleusengelände in ein riesiges Dampfbad. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Die Soldaten, die auf der Schleuse jetzt Tag und Nacht Wache hielten, eilten zu ihren Flakstationen und warteten auf ihren Einsatz. Drei mit Seesäcken bepackte Seemännern standen zusammen mit Bootsmann vor der Zauntür. Der alte Seebär hatte zur Beruhigung seinen besten Hanf geraucht, und hatte dadurch etwas Schwierigkeiten mit der Tür. Der Dietrich hatte sich irgendwie im Schloss verklemmt. „Verdammte noch mal, Willi hat mir den doch gegeben! Beim Klabautermann, der muss doch passen.“ Bootsmann rüttelte den Ersatzschlüssel hin und her, und auf seiner Stirn sammelten sich einige Schweißperlen. Erst die mehrmalige Verfluchung des Klabautermannes, und eine kräftige Portion mit Priem versetzte Spucke brachten Erfolg. …........................................................................................................
„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last
greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
und holt herunter seine ewigen Rechte,
die droben hangen unveräußerlich und
unzerbrechlich wie die Sterne selbst“
Willi hatte diese Worte aus „Wilhelm Tell“ während seiner Lehrzeit gelesen und konnte sie auswendig. Der Schweizer Freiheitskämpfer hatte sich geweigert den Hut von einem Landvogt zu grüßen. Das war eine Handlungsweise, die Willi hundertprozentig nachempfinden konnte. Dadurch wurde er ein großer Bewunderer von Friedrich Schiller, und hatte den Wunsch, einmal im Leben die Fürstengruft in Weimar zu besuchen. Hier liegt nicht nur Schiller, sondern auch der ebenso verehrte Goethe. Einen Tag später wurde Willis Wunsch auf makabre Weise erfüllt. Der Zug war in Weimar angekommen. …......................................
….........................................Um halb 3 Uhr erschienen die ersten amerikanischen Panzer, und die bewaffneten Häftlinge rückten auf das Eingangstor und die Wachtürme vor. Das wenige nicht geflüchtete Wachpersonal leistete keinen Widerstand, und das Lagertor wurde geöffnet. Die Uhr des Haupttores wurde kurz nach drei angehalten, und die verbliebenen SS-Schergen wurden gefangen genommen. Manche hielten es für eine gute Idee sich Häftlingskleidung anzuziehen, und unauffällig in den Ecken des Lagers herumzustehen. Diese jämmerlichen Feiglinge glaubten mit dieser Verkleidung einer Strafe entkommen zu können. Sie wurden aber schnell erkannt, und dann ließen sich einige Racheakte nicht verhindern. Die Gedemütigten wurden jetzt zu Jägern. Die aufgestaute Wut entlud sich besonders an einigen verhassten Offizieren und Kapos. Ein paar kräftige Häftlinge mussten dafür sorgen, dass diese gerade noch am Leben gelassen wurden. ….......................................
...............................Die Wände seines Hauses kamen ihm merkwürdig durchsichtig vor. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass der Giebel seines Hauses zum größten Teil nicht mehr vorhanden war. Das Dach wies Lücken auf, und links neben seinem Haus, wo eigentlich das Nachbarhaus stehen sollte, klaffte ein Krater. Der war gefüllt mit den Resten von Wänden, zersplittertem Holz, zertrümmerten Steinen, Glassplittern und Teilen von Dachziegeln. Willis stockte der Atem, und er wischte sich noch mal ungläubig über die Augen. Ihm wurde schwindelig, seine Beine verloren den Halt, und er sackte kraftlos zusammen. Jetzt saß er auf den roten Steinen der Straße und starrte ungläubig sein Haus an. …................................